Geschichte: Deutschland unter Bismarcks Führung

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    Die "Deutsche Verfassunggebende Nationalversammlung" war keine revolutionäre assemblée nationale. Viel eher empfanden sich die Abgeordneten, die voll Stolz und mit hohen Idealen unter einem Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen am 18. Mai 1848 feierlich in die Frankfurter Paulskirche einzogen, als legitime Volksvertreter für das ganze deutsche Bundesgebiet.


    Fast alle entstammten dem gebildeten, besitzenden Bürgertum, das schon in der Erhebungszeit die Nation aufgerufen hatte. Unter den rund 800 Abgeordneten gab es keinen Arbeiter und nur wenige Handwerker; neben 60 Gutsbesitzern nur einen einzigen Kleinbauern. Drei Viertel der Abgeordneten waren Akademiker, wobei die Juristen überwogen (230). Unter den Abgeordneten sah man viele bekannte Persönlichkeiten: Ernst Moritz Arndt und den "Turnvater" Jahn, Jacob Grimm, den schwäbischen Dichter Ludwig Uhland, die Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, Georg Waitz und Johann Gustav Droysen, den Gelehrten F. Th. Vischer, den katholischen Theologen Ignaz Döllinger und den späteren Bischof von Mainz, Wilhelm Emanuel v. Ketteler. Den hessischen Märzminister und Burschenschafter Heinrich v. Gagern wählte die Nationalversammlung zu ihrem Präsidenten.

    Schnell bildeten sich parteimäßige Strukturen heraus. Die konservative Rechte (Schwerin, v. Radowitz) betonte den föderalistischen Gedanken, die gemäßigte liberale Mittelgruppe war gespalten in ein rechtes Zentrum (Dahlmann, Droysen), das einen gemäßigten Konstitutionalismus und einen dualistischen deutschen Bundesstaat (unter Einschluss Preußens und Österreichs) forderte und die Linke (v. Mohl), die parlamentarisch-unitarisch, "kleindeutsch" eingestellt war. Die Republikaner (Blum, Ruge) schließlich erstrebten eine zentralistische deutsche Republik und lehnten jede Vereinbarung mit den bestehenden Regierungen ab.


    Die Nationalversammlung scheiterte letztlich an der ihr gestellten Doppelaufgabe einer Staats- und Verfassungsschöpfung. Während es in den konstitutionellen (Gewaltenteilung zwischen Reichstag und Erbkaisertum) und bundesstaatlichen (Zentralgewalt für Außenpolitik, Heer, Gesetzgebung unter Schonung der einzelstaatlichen Interessen) Kontroversen zu tragbaren Kompromissen kam, standen sich in der Nationalitätenfrage die Befürworter der groß- und kleindeutschen Lösung unversöhnlich gegenüber.

    Nach dem Scheitern der kleindeutschen Richtung (Friedrich Wilhelm lehnte 1849 die ihm angetragene Kaiserwürde ab) traten die meisten Abgeordneten aus der Nationalversammlung aus oder wurden von ihren Regierungen abberufen. Das Rumpfparlament siedelte nach Stuttgart über, wo es im Juni 1849 durch württembergisches Militär aufgelöst wurde. In der Pfalz, in Baden, Sachsen und in Teilen der preußischen Rheinprovinz erhoben sich die radikalen Linken für die Durchführung der Verfassung, wurden aber vor allem durch preußische Truppen - unter Führung des Prinzen Wilhelm - niedergeworfen. Preußen erstrebte in der Folgezeit eine Einigung der Territorialfürsten (Unions-Politik) und die Errichtung eines kleindeutschen Bundesstaates unter seiner Führung. Nach dem Vertrag von Olmütz, der einen drohenden Konflikt mit Österreich in letzter Minute verhinderte (November 1850), musste es seine Pläne begraben und der Erneuerung des alten, unter österreichischem Vorsitz tagenden Bundestages zustimmen. Sowohl der revolutionäre als auch der mit den Mächten der alten Legitimität unternommene Versuch, ein deutsches Reich zu gründen, war gescheitert. Die Reaktion hatte gesiegt, allenthalben war das alte Regime mehr oder minder gewaltsam wiederhergestellt worden. In Österreich hob Schwarzenberg 1851 die Verfassung von 1849 auf und stellte Absolutismus und Zentralismus in der Donaumonarchie wieder her. Erst 1860/61, nach der Niederlage in Italien, kam es zur Einführung einer konstitutionellen Monarchie.

    Preußens oktroyierte Verfassung von 1848 (seit 31. Januar 1850 in Kraft) war ganz im konservativen Sinne abgefasst. Ein Dreiklassenwahlrecht verwandelte die Erste Kammer in ein Herrenhaus. Auch die Regierungsübernahme durch den Prinzregenten Wilhelm (den späteren deutschen Kaiser Wilhelm I.), von dem man liberale Reformen erhoffte, änderte daran nichts. Mit Wilhelm begann eine "Neue Ära" gemäßigt liberaler Politik (1858). Dennoch brach 1862 infolge der Heeresreformforderungen der Krone ein Verfassungskonflikt aus. Das Parlament verlangte eine starke Berücksichtigung der auf demokratischen Prinzipien beruhenden Landwehr. Die Krone dagegen wünschte die Überführung der jüngeren Jahrgänge der Landwehr in die Reserve, also in das aktive Heer (Linie und Reserve), das als Stütze der Monarchie galt. 1861 wurde Wilhelm I. König. Durch seine starke Betonung des "Gottesgnadentums" verschärfte er die parlamentarische Opposition der "Fortschrittspartei". 1862 brachten Neuwahlen eine erhebliche Stärkung der liberalen Gruppe im Abgeordnetenhaus. Sie lehnte die Heeresreformpläne ab und verweigerte die Bewilligung der Geldmittel. In dieser Lage veranlasste Kriegsminister Roon den zur Abdankung bereiten König zu einem letzten Versuch mit einem "starken Mann". Nur aus diesem Grunde wurde der frühere konservative Abgeordnete, Otto von Bismarck, seinerzeit Gesandter in Paris, auf den Posten des Ministerpräsidenten berufen (September 1862).


    Bismarck hatte nach dem Besuch der höheren Schule Rechtswissenschaft studiert und war Regierungsreferendar geworden. Nach seinem Ausscheiden aus dem Verwaltungsdienst, der ihm nicht behagte, widmete er sich dem elterlichen Rittergut; 1847 wurde er Abgeordneter im Vereinigten Landtag als Repräsentant der Ritterschaft für die Altmark. Dort zeigte er eine starre konservative Haltung und gab sich betont als Feind der Revolution von 1848. 1851 begann seine diplomatische Laufbahn. Von Friedrich Wilhelm IV. wurde er zum Dank für seine Verteidigung der Konvention von Olmütz zum Bundestagsgesandten in Frankfurt am Main ernannt. Es folgte 1859 seine Tätigkeit als Gesandter in Petersburg und schließlich 1862 in Paris. Am 22. September 1862 erklärte er sich in einer entscheidenden Unterredung mit König Wilhelm bereit, als Ministerpräsident die Heeresreform auch gegen das Parlament durchzusetzen, und so wurde er auf diesen Posten berufen. Bismarck regierte ohne Zustimmung des Parlaments. Er bekämpfte rücksichtslos die Opposition (Pressegesetz vom 1. Mai 1863), die jedoch aus den Neuwahlen vom Oktober 1863 abermals gestärkt hervorging. Als Dänemark im November 1863 durch die Einführung einer "Gesamtstaatsverfassung" und die Einverleibung Schleswigs seine Verpflichtungen gegenüber Österreich und Preußen gröblich verletzte, beschloss der Bund die Bundesexekution gegen Dänemark (Dezember 1863). So kam es 1864 zum preußisch-österreichischen Feldzug gegen die Dänen. Im Wiener Frieden (Oktober 1864) musste Dänemark Schleswig/Holstein und Lauenburg an Preußen und Österreich abtreten.

    Während der schleswig-holsteinischen Krise herrschten die widersprechendsten politischen Tendenzen. Die öffentliche Meinung in Deutschland wollte Schleswig zu einem deutschen Bundesstaat unter dem Herzog von Augustenburg machen, der Erbansprüche stellen konnte. Österreich schwankte zwischen diesem Ziel und dem der Wiederherstellung des Londoner Protokolls (Personalunion, aber nicht Einverleibung). Bismarck erstrebte dagegen die Annexion der Herzogtümer an Preußen. Nach außen vertrat er jedoch die Forderung, das Londoner Protokoll wiederherzustellen, weil er nur so den Großmächten den Wind aus den Segeln nehmen, Österreich auf seine Seite ziehen und die Entstehung eines weiteren deutschen Kleinstaates mit antipreußischen Interessen verhindern konnte. Dies war das erste Meisterstück der Bismarckschen Außenpolitik, die sich alle Möglichkeiten offen zu halten und die Situation auszunutzen verstand. Dänemark spielte Bismarck in seiner nationalen Erregung, mit der er gerechnet hatte, alle Trümpfe in die Hand. Er erreichte sein verdecktes Ziel schrittweise: die gemeinsame Annexion 1864 im Wiener Frieden, 1865 dann im Vertrag von Gastein die Teilung der Verwaltung: Holstein fiel an Österreich, Schleswig an Preußen, das auch Lauenburg kaufte. Damit wurde der schon damals drohende preußisch-österreichische Krieg vermieden. Erst 1866 gelang Preußen die völlige Einverleibung Schleswig-Holsteins.

    Das zweite Meisterstück der Bismarckschen Außenpolitik war die Lösung des deutsch-österreichischen Dualismus durch Niederwerfung Österreichs. Zunächst versuchte Bismarck, Österreich nach dem Beispiel von Schleswig-Holstein für eine Teilung der Machtsphären in Deutschland zu gewinnen. Dieser friedliche Weg scheiterte am Schwanken und an der Ziellosigkeit der österreichischen Politik, aber auch an Bismarcks Taktik des "Offenhaltens aller Möglichkeiten". So kam es zum Krieg zwischen dem mit Italien verbündeten Preußen und dem von Österreich geführten Deutschen Bund im Jahr 1866. Napoleon III. hatte das Bündnis Preußens mit Italien vermittelt. Er hoffte auf einen längeren Erschöpfungskrieg der deutschen Mächte und auf Kompensationen für seine etwaige Friedensvermittlerrolle. Den Kriegsanlass lieferte Bismarcks Antrag zur Bildung eines deutschen Bundesparlaments vom 9. April 1866. Österreich beantwortete diesen Antrag, indem es die schleswig-holsteinische Streitfrage vorbrachte, Preußen wertete das als Bruch des Gasteiner Vertrages und besetzte Holstein. Österreich und der Bund mobilisierten, es kam zum Krieg.

    Die diplomatische Kunst Bismarcks vereitelte die drohende Einmischung Frankreichs, das einen Kongress der Großmächte anstrebte. Er verstand es, den französischen Botschafter Benedetti mit Versprechungen hinzuhalten und gegen den Willen des Königs und der Generalität einen schnellen Frieden mit Österreich zu schließen. Die Kampfhandlungen endeten am 26. Juli 1866 mit dem Waffenstillstand von Nikolsburg. Im Frieden von Prag und Wien musste Österreich Venetien an Italien abtreten und seine Zustimmung zur Annexion Hannovers, Kurhessens, Nassaus und Frankfurts durch Preußen und zur Gründung des "Norddeutschen Bundes" geben. Durch die Neubildung des Zollvereins wurden auch die süddeutschen Staaten eng an Preußen gebunden.

    Bismarck konnte 1866 und später auf die wohlwollende Neutralität Russlands zählen, die er sich durch seine Tätigkeit in Petersburg und durch die Unterstützung Russlands während der polnischen Unruhen 1862/63 gesichert hatte. Die englische Regierung misstraute zwar seiner Politik, duldete sie aber, was ihr Bismarck durch seine Rücksichtnahme auf internationale Abmachungen wie das Londoner Protokoll erleichterte.

    Französisches Prestigedenken und die Angst vor dem preußisch-deutschen Hegemonialstreben führten zum Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Die Kandidatur eines Hohenzollernprinzen für den spanischen Thron war nur äußerer Anlass. Der Krieg brach aus, als Napoleon III. den formellen unwiderruflichen Verzicht der Hohenzollern auf die spanische Krone erzwingen wollte und Botschafter Benedetti bei Wilhelm I. in Bad Ems eine Zurückweisung erfuhr, die durch Manipulationen Bismarcks ("Emser Depesche") einen für Frankreich demütigenden Charakter erhielt. Die früheren Ansprüche Napoleons auf deutsche Grenzgebiete (Saar, Pfalz usw.) und auf Belgien, die Bismarck zum geeigneten Zeitpunkt veröffentlichte, brachten die süddeutschen Staaten auf die Seite Preußens, verhinderten ein österreichisch-französisches Bündnis und ließen in England eine antifranzösische Stimmung aufkommen.